
Das Staunen ist nicht nur ein einfaches Gefühl. Es bildet die ursprüngliche Haltung des erwachten Seins, die natürliche Disposition der Seele angesichts des Mysteriums des Lebens und der Unendlichkeit. Carl Gustav Jung beschreibt es als jenen Moment, in dem man vor dem Unbekannten steht – dem Unbewussten, dem Kosmos, den unsichtbaren Kräften – fasziniert und demütig zugleich. In diesem Zustand der Empfänglichkeit entsteht das Numinose, diese Präsenz, die das Verstehen übersteigt, Faszination und heilige Furcht vermischt und die Seele direkt berührt.
Philosophen und Mystiker bestätigen diese Idee. Kierkegaard spricht vom Staunen als dem Augenblick, in dem das Sein der Unendlichkeit gegenübersteht, Beginn aller tiefen Erkenntnis. Abraham Joshua Heschel beschreibt ein „radikales Erstaunen", unerlässlich, um die Größe des Wirklichen vor jeder rationalen Erklärung zu erfassen. In der mystischen Kabbala nähert sich diese Haltung der „ehrfürchtigen Furcht", die die Seele für das Licht öffnet und die Vereinigung mit dem Göttlichen vorbereitet.
Das Staunen durchzieht auch alle großen spirituellen Traditionen. Im Christentum manifestiert es sich durch die mystische Ekstase, Erfahrung der direkten Gemeinschaft mit dem Göttlichen. Im sufistischen Islam nimmt es die Form einer inneren Ekstase an, die ein expansives und lichtvolles Bewusstsein erweckt. Im Buddhismus ist das Samadhi ein Zustand der Konzentration und inneren Einheit, in dem der Geist mit der ultimativen Realität verschmilzt, begleitet von tiefem Staunen. Die Sikh-Tradition beschreibt ebenfalls diese Öffnung der Seele und betont die spontane Anerkennung der Schönheit und Vollkommenheit der Schöpfung.
Das Staunen wird durch Meditation, bewusste Aufmerksamkeit und die Beobachtung der kleinen Details des Lebens kultiviert: das Zwitschern eines Vogels, ein Sonnenstrahl, das Lächeln eines Kindes. Diese einfachen Augenblicke sind in Wirklichkeit Türen zur Tiefe der Seele und zur Kontemplation des Heiligen.
Joseph Joubert, französischer Philosoph und Moralist, hat diese Idee präzise ausgedrückt. Für ihn „lässt nichts den Gedanken entstehen als das Erstaunen", und „das größte Vergnügen des Geistes ist es, in den einfachsten Dingen das Tiefste zu entdecken". Er bestand auf der Notwendigkeit, aufmerksam zu schauen und bei dem zu verweilen, was man in einem Augenblick zu sehen glaubt, denn „die Aufmerksamkeit ist der Weg zum Staunen". Nach Joubert ist diese Disposition nicht oberflächlich: sie offenbart die Schönheit und Tiefe des täglichen Lebens und öffnet das Bewusstsein für weitreichendere Dimensionen.
Stellen Sie sich nun eine ursprüngliche Leere-Fülle vor, in der das Bewusstsein noch schläft, getragen von einer Matrix, die alles und nichts zugleich enthält, ewig jungfräulich, vibrierend von einem tiefen Klang, ähnlich dem mmmm des OM. In diesem unendlichen Raum erscheint ein Lichtpunkt, vielleicht geboren aus diesem ursprünglichen Klang. Das Bewusstsein erwacht, sieht zum ersten Mal ein Phänomen und richtet sich spontan auf dieses Licht, das wächst und sich erhellt. Das Staunen entsteht dann, rein und ursprünglich, wie das Licht, das sich nach aller Ewigkeit der Stille offenbart.
Diese Erinnerung an das Staunen ist die Wurzel des erwachenden Selbst. Sie leitet unsere Evolution und unsere Beziehung zur Welt. Unsere Seele, wie eine zur Sonne gewandte Blume, richtet sich auf eine zentrale Sonne im Herzen des Universums.
Sich an diese ursprüngliche Haltung zu erinnern, sie zu reaktivieren und täglich zu kultivieren — durch Meditation, bewusste Aufmerksamkeit und die Beobachtung des Lebens in seinen einfachsten Details — ermöglicht es unserem Bewusstsein, vollständig zum Leben zu erwachen.